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Der Gründer von Casa Taiguara

Um sich ein besseres Bild des Gründers von Casa Taiguara ,Daniel Fresnot, bilden zu können, nachfolgend Briefauszüge.

Schließlich sind es nur Kinder, die sterben!

Als ehemaliger Marxist war ich früher stets der Meinung, dass der Staat allen Zugang zu Erziehung, Gesundheit und Wohnung zu geben habe. Aber wer ist der Staat? Der Abgeordnete? Der Bürgermeister? Der Regierungschef? Der Polizist, der keine anständige Bezahlung erhält noch eine Möglichkeit hat, jemals einer anderen Arbeit nachzugehen?

In den 30er und 40er, den 60er,70er und 80er Jahren durchlebte Brasilien mehrere diktatorische Regime - um einer gerechten Bestrafung zu entgehen, verließen die Folterer und Korrupten allzuoft das Land ohne jemals für ihr Tun bestraft zu werden. (Anm.: Heute tötet man einen Jugendlichen wegen Drogenschulden von 15 €). Wenn mein Nächster davon bedroht ist zu ertrinken, warte ich jetzt nicht mehr darauf, dass der Staat ihn retten wird, ich springe selbst ins Wasser um ihn zu retten.

Entschuldigt meinen belehrenden Ton und entschuldigt diese Zeilen in der ersten Person aber der Staat beginnt zu hause. Auf den Sozialismus zu warten (oder auf die Gesetze des Marktes oder auf wirtschaftliches Wachstum), währenddessen man einen Mindestlohn an seine Hausangestellte bezahlt und nichts davon wissen will, ob sie in einer favela schläft, ist heuchlerisch.

Zulassen wie Kinder auf der Straße getötet werden und nichts dagegen tun, da wir Angst vor der Gewalt haben, ist schlimmer als Heuchelei, es ist ein Verbrechen. Ich liebe das Land, welches mich aufgenommen hat (Anm. d.Ü.: Daniel Fresnot ist Franzose und lebt seit seinem 10. Lebensjahr in Brasilien und ist inzwischen „naturalisierter Brasilianer“), deshalb höre ich nicht auf darauf hinzuweisen, dass große Teile der brasilianischen Gesellschaft Komplizen dieser Heuchelei und dieser Verbrechen sind. Obwohl groß an der Zahl, wissen sie nicht, wie sie sich gegenüber diesem Problem verhalten sollen.

Es war bereits dunkel um fünf Uhr nachmittags und Schnee fiel an jenem Sonntag im Januar 1994 in Paris. Aus der Metro kommend informierte mich ein Plakat, welche geheizte Station während der Nacht für die Obdachlosen geöffnet sei. Die Ausstellung „Straßenkunst, Straßenkinder“ war bereits dabei zu schließen, lohnte es sich noch der Kälte im Vilette-Park auszusetzen? Ich war gekommen um von einer französischen Organisation eine monatliche Unterstützung von 500 US-Dollar zu erbitten, womit ich kleine Häuser kaufen wollte, um Frauen mit ihren Kindern eine Bleibe zu verschaffen. Im Ausstellungsraum sah ich einen Tisch mit einem Prospekt: ENDA BOLIVIA. 1986 von einem französischen Ehepaar gegründet, half ENDA BOLIVIA in acht Jahren mehr als 3000 Jugendlichen.Thierry informierte mich - während er den Infostand abräumte - über diese Arbeit und ich erklärte ihm, dass ich selbst eine kleine Gruppe in Sao Paulo hatte. „Ich stelle dir Thomas vor, er hat auch schon mit Straßenkindern in La Paz gearbeitet,“ war Thierrys Antwort. Aus dieser kleinen Begegnung erwuchs `CASA TAIGUARA`, aus dem guten Willen dreier Personen, deren Freunde und Gott.

Ohne Geld, ohne öffentliche Unterstützung, ohne Hilfe einer Stiftung bzw. eines Unternehmens beschlossen wir Tag und Nacht Kindern und Jugendlichen, die auf der Straße leben, eine Unterkunft anzubieten. Wir mieteten ein Haus an und begannen die Arbeit mit einer kleinen Gruppe von Erziehern und Freiwilligen.

In den vergangenen Jahren litt ich desöfteren an Erschöpfung und mußte mir immer wieder Sorgen wegen der finanziellen Situation machen - jedoch: immer wenn ich nahe daran war, den Mut zu verlieren, dachte ich: es geht um Kinder, die sterben!

Gott zeigte, dass es ausreicht mit ein wenig Mut wirksam zu handeln. Mein Unternehmen verliert Geld, ich habe keine Wertpapiere, erfahre weder politische Unterstützung noch irgendeine Hilfe von seiten der Kirche bzw. der Synagoge. Jedoch: solange CASA TAIGUARA arbeiten kann, werde ich Mädchen und Jungen von der Straße retten.

Ich liebe mein Land, deshalb schweige ich nicht und weise darauf hin, dass die brasilianische Gesellschaft Komplizin der Verbrechen und der Heuchelei ist: sie läßt es geschehen, dass Straßenkinder getötet werden, sie unternimmt wenig oder gar nichts um diese zu retten. Wir können dieser traurigen Situation entgegentreten indem wir weitere „TAIGUARAS“ für Kinder und ebenso für Erwachsene schaffen. Sie können uns dabei helfen.

Aus einem Brief von Daniel Fresnot:

Es ist möglich, die Kinder von der Strasse zu bringen

"Es ist sehr wohl möglich, das Problem der auf der Strasse hausenden Kinder in São Paulo und anderern brasilianischen Städten zu lösen.

1) Offenes Haus rund um die Uhr

In diesen Häusern gibt es sowohl Regeln als auch pädagogische Grundsätze zu beachten. Im Fall der Häuser Casa Taiguara (13 - 17 Jahre) und Taiguarinha (bis 12 Jahre) haben die Kinder fünf Grundregeln zu beachten:

  • Keine Drogen ins Haus mitbringen
  • Ebenso keine Waffen oder geraubte Gegenstände
  • Keinen Streit anzetteln
  • Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten
  • Teilnahme am Angebot der Lehrpersonen aufgreifen mit dem Ziel die Rückkehr in eine Schule zu ermöglichen.

Täglich werden Kinder von der Strasse geholt, auch unter Drogeneinfluss. Eine Sozialarbeiterin prüft bei uns, inwiefern eine Rückkehr zur Familie möglich ist. Dies ist in der Mehrzahl der Fälle zunächst ausgeschlossen, da die Jugendlichen einst aus ihrem Elternhaus abgehauen sind; dort waren sie zuvor i.d.R. schlecht behandelt, geschlagen, sexuell missbraucht, gedemütigt worden. Solange eine Rückkehr unmöglich erscheint wohnen die Kinder in Häusern wie Casa Taiguara und gehen in die Schule.
Kinder bzw. Jugendliche mit Drogenproblemen werden an Entziehungshäuser ausserhalb São Paulos weitervermittelt. Die hierfür pro Person anfallenden monatlichen Kosten von 400 Reais werden durch die ausgezeichneten Ergebnisse gerechtfertigt.

Der Unterhalt der beiden Häuser Casa Taiguara und Taiguarinha beläuft sich auf monatlich 40 000 Reais, wobei die Kosten für die Entziehungskuren für augenblicklich 15 jugendliche beinhaltet sind. Monatlich ist Taiguara / Taiguarinha Anlaufstelle für über 100 Straßenkinder. Insgesamt wird die Zahl der im Grossraum São Paulo lebenden Straßenkinder auf ungefähr eintausend geschätzt. Es würde genügen zehn Häuser für die Kleinen und weitere zehn für die Jugendlichen zu errichten, was Kosten von ca. 1 Million Reis bedeuten würde. Die Erfahrung von Casa Taiguara seit 1996 zeigt, dass die Bereitschaft, rund um die Uhr ansprechbar zu sein sich als Lösung empfiehlt, dies zeigen nicht zuletzt die erzielten Ergebnisse.

2) Begleitung

Bei entsprechender Anzahl offener Häuser ist es ein leichtes alle auf der Strasse lebenden Kinder aufzunehmen und sie zu begleiten. Diese notwendige Begleitung - um sie vom Leben auf der Straße weg zu bringen - muss vor allem über "Straßenerzieher" bzw. entsprechend ausgebildetes Personal in den Häusern geschehen. Norm müsste sein den Kleinen das Schlafen sodann auf der Strasse zu untersagen, den "Estatuto da Criança e do Adolescente" anzuwenden und auf diese Art und Weise Lebensbedingungen für die Kinder weg von der Strasse zu schaffen. Die Auswirkungen einer Gewaltprävention wären erheblich und allein dies rechtfertigt eine Investion.

Neben diesen 24 Stunden geöffneten Anlaufstellen, der Zusammenarbeit mit Schulen und Drogenentziehungsheimen ist es notwendig, einen Schritt weiter zu denken. Die Einrichtung von "Repúblicas", Wohnraum für Jugendliche, denen die Loslösung gelang, welche lernen oder arbeiten möchten, ist vorzusehen. Das Wohnen in einer "República" wäre eine Belohnung für einen Jugendlichen, welcher endgültig die Strasse, Drogen, Kriminalität verlassen hat. Die monatliche Kosten beliefen sich hier für 30 Jugendliche auf 12.000 Reais. Bei angenommenen zwanzig "Offenen Häusern" würden zehn "Repúblicas" ausreichen, die Anzahl der Erzieher wäre in diesen Häusern bedeutend geringer, die Jugendlichen übernähmen Selbstverantwortung.

Im bisherigen Verlauf des Jahres 2002 gibt es in São Paulo nur zwei Häuser, welche rund um die Uhr geöffnet sind. (Taiguara und CCCA Arteevida). Dies ist unzureichend. Würde man die gemachten positiven Erfahrungen multiplizieren wäre es möglich, alle Kinder von der Strasse zu holen. Mit entsprechenden Mitteln können wir soweit kommen.

Daniel Fresnot, Herbst 2002


Anm.: Zu Beginn des Jahers 2009 gibt es inzwischen mehrere Häuser in São Paulo, welche ganztags geöffnet sind, d.h. das Konzept von Casa Taiguara verbreitet sich.